Leseprobe

                                                         Elisabeth Erdtmann

                                  Momotombo

                                                                  Roman

 

 

Die Geschichte ist ein rückwärts blickender Prophet:
aus dem, was war, und entgegen dem, was war,
schöpft sie das Wissen dessen, was sein wird.
Eduardo Galeano
Die offenen Adern Lateinamerikas

 

Komm Freundin, keine Traurigkeit, tanzen wir
bis zur Dämmerung
und gib mir das Herz
bis ans Ende der Nacht zu gehen.
Aimé Césaire
Im Kongo

 

                                                                        1

Der Bus verließ rumpelnd den Busbahnhof am Rand eines belebten Marktplatzes.
Durch das gesprungene Glas des staubigen Heckfensters sah man
bei zunehmender Entfernung das Einzelne zu einer wimmelnden Masse
verschmelzen: Marketenderinnen, Schuhputzer, Straßenhändler, Reisende,
die zur Weiterfahrt in eine der Provinzen auf den nächsten Bus warten.
Allein die magere, aufschießende Gestalt eines Sektenpredigers sah man
noch länger. Wie ein Periskop hob er sich aus der Menge heraus, dank einer
kleinen Sprossenleiter unter seinen Füßen, die dem Propheten einer wütenden
Gottheit als improvisierte Kanzel diente. Zum Kreuzzug gegen das
Böse angetreten, das zerklüftete, bleiche Gesicht wahnhaft verzerrt, kündete
seine schrille, sich überschlagende Stimme vom baldigen Untergang
allen irdischen Daseins, der sündhaft beladenen Menschenwelt durch das
furchtbare Strafgericht des Allmächtigen, das bedenklich näher gerückt
war, seit Revolutionäre das Land regierten und das Volk mit lästerlichen
Ideen infizierten. Wild gestikulierend, die knochigen Arme durch die Luft
wirbelnd, schleuderte er alle Blitze der sieben Himmel gegen die Lauen und
Ungläubigen, gegen Sandinisten und Kommunisten, gegen Marxisten und
Atheisten.

„Nehmen Sie meinen Platz, compañera“, erbot sich ein junger Mann
mit einem ermunternden Lächeln, schon im Begriff sich von seinem Sitz
zu erheben. Kein Zweifel, das Maß des Erträglichen musste ihr allzu deutlich
im Gesicht geschrieben stehen, das ihr Zumutbare, wenn sich jemand
so umstandslos bereit fand, ihr – der Reisenden, die zum ersten Mal fremden
Boden außerhalb Europas betrat – seinen Sitzplatz zu überlassen, um
selbst, eingezwängt zwischen all den Menschen, die Reise stehend fortzusetzen.
Alle, die hier saßen, hatten seit dem Morgengrauen Stunden mit
Warten in brütender Hitze zugebracht, um beim Eintreffen des Omnibusses
unter den ersten zu sein, denn ihr frühes Erscheinen verschaffte ihnen die
vage Aussicht auf einen der begehrten Sitzplätze. Julia hatte dankend abge-
lehnt, schließlich handelte es sich bei diesem Reiseabenteuer um ihre erste
Bewährungsprobe, was dieser hilfsbereite Kavalier natürlich nicht wissen
konnte. Wann sah man schon Leute wie ihresgleichen sich in diese zum
Bersten gefüllten Menschenbehältnisse zwängen? Geschöpfe ihrer Art, sofern
sie bei einer der zahlreichen Hilfsorganisationen angestellt waren oder
sich im Auftrag befreundeter Regierungen im Land aufhielten, bewegten
sich gewöhnlich in nagelneuen Jeeps mit klimatisiertem Innenraum fort. Es
war diese Art von Bedeutsamkeit, die ihre Person herausstellte, derentwegen
sein Angebot sie auf unliebsame Weise berührt hatte, eine Bedeutsamkeit,
die sich bei bestimmten Gelegenheiten um Menschen rankt und sie zu
Symbolen werden lässt − eine eigenartige Verkörperung gewisser allgemeiner
Züge, die ihr, Julia, den symbolischen Umriss einer Spezies Mensch
verlieh, die sich auf der Welt allein für wesentlich hält; deren ausgeprägter
Hang, ihr Herrengefühl zur Schau zu stellen, zur Wesensart gehört, um
dem Anspruch auf Privilegien den notwendigen Nachdruck zu verleihen.
Wie sehr auch ihre eigenen Absichten davon unberührt sein mochten, so
war hier im Gedränge, Körper an Körper mit den von Staub überzogenen,
schwitzenden Menschen, in diesem Wiedererkennen doch die Tatsache einer
umfassenden Wirklichkeit enthalten, in deren Natur es lag, sich blind
und unabhängig vom eigenen Willen durchzusetzen. Jahrhunderte kolonialistischer
Perversionen hatten dafür gesorgt, dass in diesem Teil der Welt
selbst jemand wie sie sich noch zu den Begünstigten zählen konnte. Kläglich
musste sich daher jeder Versuch ausnehmen, aus der Rolle herauszuspringen,
die ihr aufgeprägt war, und doch wäre es an ihr, diesem absurden
Faktum eine andere Möglichkeit entgegenzustellen, und so hatte sie − eher
einem Impuls als einer Überlegung folgend − die wohlmeinende Geste zurückgewiesen.
Später dann, als das Brennen ihrer Fußsohlen zur einzigen
Empfindung wurde, als liefe sie bloßfüßig durch ein Brennnesselfeld, hatte
sie dankbar eingewilligt, unter der Bedingung, dass sie mit dem Sitzen
einander abwechseln würden. So hatte sie Luís kennen gelernt, ihre erste
Bekanntschaft in Nicaragua.
Jetzt war sie glücklich, dem Geschiebe und Geknuffe entkommen zu
sein, so viele Leute drängelten und schubsten, dass man ganz konfus wur-
de. Wann immer der Kassierer, ein beleibter, raubeiniger Kerl, sich durch
den Mittelgang vorarbeitete, noch da Platz schaffend, wo man keinen mehr
vermutete, mit vorgestreckten Armen, Bauch voraus, die von ihrer eigenen
Wärme aneinander geschweißten Körper durchpflügend, um das Fahrgeld
zu kassieren, wurde das mühsam errungene Gleichgewicht zerstört, das darin
bestand, einen Platz für beide Füße gefunden zu haben. Dann, nachdem
jeder seine fleischige Patschhand auf sich gespürt und das Gewoge abknickender
Glieder und verdrehter Gliedmaßen sich wieder zu glätten begann,
verschmolzen die Körper erneut zu einem ungeteilten Ganzen, das − an
Julia gerichtet − von da und von dort mal ein schüchternes, mal ein offenherziges
Lächeln aussandte oder ein von kindlicher Neugier gefärbter Blick
sie streifte.
Der ständige Rhythmus des Fahrzeugs und das leise Vibrieren der Flanken
ließ sie bald in verträumte Abwesenheit sinken. Sie sah durch den Spalt
des halbgeöffneten Fensters, im Mund einen Geschmack nach Staub. Der
majestätische Kegel des Momotombo begleitete sie noch eine Weile, bevor
er nach einer Kurve aus der Sicht verschwand. Vor dem Hintergrund
aus blauer Ferne zogen Berge vorüber, entlang der Strecke folgte das flache
Land den Windungen der Hügel, hinter Zäunen und Einfriedungen aus
Heckensträuchern verbargen sich kleine Höfe, niedrige Häuser von verschmutztem
Grau, deren Fenster und Türen sich ins Dunkel öffneten. Draußen
saßen die Alten, Frauen mit Schüsseln auf den Knien, ein Hausschwein
hingestreckt im Schatten einer Hauswand, Ferkel zockelten an einem Lattenzaun
entlang, Hühner scharrten im Sand, über einem Balken hingen
Tabakblätter zum Trocknen. Weiter landeinwärts ging eine unbarmherzig
glühende Sonne auf winzige, strohgedeckte ranchos nieder, rundköpfige
Bäume, deren Blattschichten eine geschlossene Decke bildeten, nahmen
vor dem schweifenden Auge in der Ferne die Form von Wolken an, Wolken
von hartem Grün tief über der Erde.
Quälender Widerstreit der Gefühle, Zweifel und Zögern, Vorstoß und
Rückzug – so war denn alles vorüber; es war als wäre ein Vorhang hinter
ihr gefallen und dahinter lag die Vergangenheit als Raum, wo der Stillstand
in allen Winkeln sich eingenistet hatte und ein immer wiederkehrender Ge-
danke ihr Lebensgefühl beherrschte: Du bewegst dich im Kreis und prallst
immer gegen dieselben Wände! Sie sieht sich in den Kulissen ihres eigenen
Lebens stehen, in einem Stück, das allzu oft wiederholt worden war, jeder
Akt vorhersehbar, weil die Idee, es neu zu inszenieren, niemandem einfiel.
Getrennt von allem, was Vertrautes mit naheliegenden Gewissheiten
verband, begann das Leben sich neu zu bebildern. Eine Flut von Offenheit,
von verwirrender Vieldeutigkeit und Dichte stürzte seitdem täglich auf
sie ein, wo die Erscheinungen nicht den geläufigen Mustern entsprachen
– eine Realität von neuem ungewöhnlichem Ausdruck, für deren Verstehen
die Mobilisierung all ihrer Vorstellungskraft nötig wäre. Rückschlüsse
oder Mutmaßungen lassen sich nur aus Gelebtem beziehen, aber das hier
stammte aus keiner ihr zugänglichen Erfahrung. Alles müsste sich von neuem
erschließen, die Deutung jeder kleinen, scheinbar unbedeutenden Begebenheit
zu einer Art Schöpfungsakt werden.
Julia wendete den Kopf und warf einen verstohlenen Blick auf die Frau
an ihrer Seite, die den Fensterplatz belegte. Sie war eingenickt. Sie schlief
flach atmend mit eingesunkenem Brustkorb, die Stirn auf dem Polster ihrer
kräftigen, auf der Rückenlehne des Vordermanns verschränkten Unterarme.
Die Partie zwischen Nase und Oberlippe war mit winzigen Schweißperlen
übersät und ihr Gesicht, das Julia sein Halbprofil zukehrte, erweckte den
Eindruck, als sei jeder Muskel darin vollständig angespannt. Dort, wo ihre
Füße aufsetzten, taten sich Rostlöcher im Unterboden auf, durch die man
die Asphaltdecke der Straße dahinschnellen sah.
Der Bus hielt an einer Kreuzung an, um neue Fahrgäste aufzunehmen.
Obwohl das Gedränge mit jeder Steigerung unerträglicher wurde, war entgegen
aller gängigen Erwartung aus der schweigenden Menge nicht die
geringste Unmutsäußerung vernehmbar. Aus dem Schatten eines Blütenbaums
von erhabener Größe kamen zwei Männer herübergelaufen, die
sich an einem aufgeblähten Sack abschleppten. Aus den sonnengegerbten
Gesichtern unter den Strohhüten war unschwer ihres Lebens Strenge und
Kärglichkeit herauszulesen. Julia nahm nicht weiter Notiz von dem, was
vor sich ging, ihr Blick war in Feuerfarben getaucht, allein der Baum mit
seinen drapierten Blütenzweigen stand ihr vor Augen, wie ein riesiger flam-
mender Blumenstrauß stach er in das Blau des Himmels und in seine Betrachtung
mischte sich Leichtigkeit und Freude.
„Malinche“, vernahm sie Luís‘ Stimme über ihrem Kopf.
„Malinche?“
„Ja, wir nennen diesen Baum Malinche. Malinche, das war eine indianische
Sklavin im Besitz eines Mayafürsten in Mexico, bevor dieser sie
Hernán Cortés zum Geschenk machte. Sie wurde seine Geliebte und blieb
während der Eroberung Mexicos an seiner Seite. Als Ratgeberin und Dolmetscherin
half sie ihm eine Eingeborenenarmee gegen die Azteken aufzustellen,
was mit der bekannten Zerstörung der glanzvollen Hauptstadt
Tenochtitlán endete.“
„Malinche − sie muss eine wunderschöne Frau gewesen sein“, sagte Julia
wieder zu dem Baum hinblickend, “…und eine Verräterin?“
„So kann man es sagen, aber schönen Frauen verzeiht man gern, ist es
nicht so?“ Ein umwerfendes Lächeln zeigte seine schönen, gleichmäßigen
Zähne. Überhaupt hatte er alles, was sich eine Frau unter einem gutaussehenden
Mann vorstellt: stolze Gesichtszüge, wundervolle braune, längliche
Augen und jene Tiefe des Blicks, der in ungeschützten Momenten unumwegig
wie ein Pfeil trifft. Oh gewiss, auch einem solchen Mann verzeiht
man eine gewisse Art von Anmaßung gern, womit die Dinge wieder im Lot
wären.
Julia war aufgefallen, dass Luís alles, was ihm in die Augen trat, mit
ähnlicher Neugier und Aufmerksamkeit betrachtete wie sie, als sähe auch
er das alles zum ersten Mal. Er komme nach Jahren der Abwesenheit wieder
nach Hause, gab er ihr zur Erklärung. Er habe ein Stipendium erhalten,
nach dem Sieg sei er unter den ersten gewesen, die die Gelegenheit
bekamen, in Cuba zu studieren; jetzt werde er als Lehrer arbeiten, was er
am liebsten täte, oder im Erziehungsministerium. „Je nachdem, wo ich am
dringendsten gebraucht werde.“
„Wollen wir den Platz wieder tauschen?“ wandte sich Julia nach einer
Weile des Schweigens an ihren Gönner.

 

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